Vermutlich haben Urs und Ursula spätestens heute eingesehen, dass es ein Fehler war, das schöne Rathausnest so lange zu bewachen. Es ist auch anzunehmen, dass die beiden Wildstörche mit solchen extremen Schneefällen noch nie zu tun hatten. Und sie tun gut daran, Energie zu sparen und an sicherer Stelle im Nest so lange auszuharren, bis sich das Wetter bessert. Weiterhin sind wir davon überzeugt, dass die beiden noch ziehen werden. Sie sind gut genährt und fanden in der letzten Zeit noch reichlich Futter. Die fast täglichen Beobachtungen haben gezeigt, dass sie fleißig Futter suchten und auch fanden. Vorerst müssen wir uns also keine Sorgen machen. Immer wieder wurde von Storchenfreunden vorgeschlagen, den beiden Futter auszulegen. Das Ziel war aber, dass die beiden ziehen sollten, sobald die natürlichen Nahrungsquellen auf den Wiesen rund um Isny versiegen würden. Die Nahrungsgebiete der beiden Störche umfasste ein riesiges Gebiet rings um Isny. Wo sollte man das Futter auslegen? Urs und Ursula waren nicht ans Füttern aus Menschenhand gewöhnt. Es sind scheue Störche, deren natürlicher Fluchtinstinkt zum Glück erhalten blieb. Sobald die beiden Störche Spaziergänger auf den Wanderwegen entdeckten, drehten sie um und liefen in der anderen Richtung davon. Kam ihnen jemand zu nahe, flogen sie sofort weg.
Es tauchte die berechtigte Frage auf, wie Romeo und Julia ans Füttern und an den Futterplatz gewöhnt wurden. Das ist eine lange Geschichte, die ich gerne erzählen kann. Damit die vielen Jahre mit Romeo nicht in Vergessenheit geraten, habe ich Nachforschungen angestellt und seine Geschichte aufgeschrieben.
Romeo war ja bekanntlich kein Wildstorch, er schlüpfte in einer Storchenzuchtstation in Munster im Elsass aus dem Ei. Dort wurde er von Storchenkindesbeinen an daran gewöhnt, Futter von den Menschen anzunehmen. Menschen waren von klein auf seine Freunde, er hatte gelernt, dass er von ihnen Futter erwarten konnte. Danach lebte Romeo viele Jahre mit seiner damaligen Partnerin in Salem. Und wie alle wissen, auch in Salem wird gefüttert, nicht nur im Winter, sondern auch im Sommer als Attraktion für die Besucher der Storchenstation auf dem Affenberg. Als Romeos langjährige Partnerin starb, wollte er nicht mehr in Salem bleiben, und er suchte sich als Horststandort für seinen Lebensabend ausgerechnet Isny raus, warum auch immer wird sein Geheimnis bleiben. Eine passende Störchin, Julia, hatte er sich auch bald herbeigeklappert und gemeinsam begannen sie mit dem Nestbau auf dem Kamin des Rathauses. Die Störche waren oft in den Wiesen im Rotmoos auf Futtersuche unterwegs. Romeo suchte auch in Isny Kontakt zu den Menschen, er war es nicht anders gewohnt. Sein späterer Futterspender Fred war zu dieser Zeit mit Arbeiten in den Streuwiesen beschäftigt. Romeo wusste anscheinend sofort: "Der ist es!" als sich die beiden eines Tages Aug in Aug gegenüberstanden. Und als Fred den Heimweg von der Bodenmühle quer durch's Rotmoos Richtung Heimat antrag, lief der Storch hinter ihm her. Und das war der Beginn einer ungewöhnlichen Freundschaft zwischen Mensch und Storch, die bis zu Romeos Tod in diesem Sommer dauerte. Romeo hat sich "seinen" Menschen selbst rausgesucht! Romeo besuchte seinen neuen Freund oft im Rotmoos, denn Fred hatte immer eine Tasche mit seiner Brotzeit dabei, Romeo schien zu wissen, dass aus einer Tasche auch Futter rausgezaubert werden konnte. Zu dieser Zeit erzielt er auch den Namen "Hansl". Hansl kannte mit der Zeit auch das Auto seines neuen Freundes. Und wenn er auf seinem Rathausnest stand und Fred mit seinem Auto durch die Stadt fuhr, flog Romeo schon zur Garage, um dort seinen zweibeinigen Freund zu treffen und auf eine milde Gabe zu hoffen. Als Romeo im Winter 2004/2005 das erste Mal in Isny überwinterte, musste er natürlich gefüttert werden. Und da er sich immer in der Nähe des Wohnhauses seines menschlichen Freundes aufhielt, war die Winterfütterung nicht so problematisch. Allerdings kam Romeo nicht bis ans Haus, er wurde anfangs noch im Rotmoos gefüttert, freiwillige Helfer mussten dann erst mal einen Landeplatz freischaufeln. Als Julia im darauffolgenden Winter auch in Isny blieb wurde es schwieriger. Julia war scheu und nahm das Futter erst an, wenn sie sich sicher fühlte und weit und breit kein Zweibeiner zu sehen war. Und die Fütterung direkt am Haus, das entwickelte sich erst im Laufe der Jahre.
...und so gibt es noch viele nette Geschichten um Romeo! Aber vorerst werden wir Urs und Ursula beobachten und entscheiden, ob wir eingreifen müssen. |